CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Ein Abend mit Yun Isang

Seit etwa 70 Jahren präsentiert die Akademie für Tonkunst in Darmstadt einmal im Jahr die TAGE FÜR NEUE MUSIK.

Heute heißt das Festival ZEITSTRÖME-TAGE FÜR AKTUELLE MUSIK

Bei diesem großen Fest für die Musik unserer Zeit gab es am Sonntag, den 10. Februar 1991 um 20:00 Uhr im Großen Saal der Akademie für Tonkunst ein ganz besonderes Konzert:

Geladen war 윤이상 선생님 (Herr Yun Isang) für ein Porträt seiner Person und seiner Musik.

Ich war damals 35 Jahre alt, und ich hatte das Glück, dabei sein zu dürfen.

Es war ein Konzert, das das Publikum und mich bewegte.

Es wurde ausschließlich Musik von Yun Isang präsentiert.

Größtenteils waren es Werke, die damals noch sehr jung waren.

Das älteste Werk (Gagok) war damals 19 Jahre alt, die zwei jüngsten waren erst drei.

Außerdem gab es ein Podiumsgespräch zwischen Yun Isang und Toni Völker, der damals die Kompositionsabteilung der Akademie leitete.

Es spielte das wunderbare Ensemble L’art pour l’art aus Hamburg, mit dem ich seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden bin.


Es gab Kammermusik:

Pezzo fantasioso per due strumenti con basso ad libitum (1988)

Kontraste. Zwei Stücke für Violine solo (1987)

Duo für Violoncello und Harfe (1984)

Gagok für Stimme, Gitarre und Schlagzeug (1972)

Sori für Flöte solo (1988)

Novellette für Flöte (Altflöte) und Harfe (1980)


All dies geschah war vor mehr als 27 Jahren. Es geschah am Abend des 10. Februar 1991.

Und es war das erste mal und gleichzeitig auch das letzte mal, dass ich Yun Isang persönlich begegnet bin.

An diesem Abend habe ich viel für mein Leben gelernt.

Meine Lehrer waren an diesem Abend Yun Isang und auch mein Leben selbst.

All dies hat bis heute für mich eine große Bedeutung.

Bis heute habe ich ein starkes Gefühl.
Das Konzert war der Abschluss einer ihm vorausgegangenen dramatischen Woche:

1991 lebte ich in einer Dach-Wohnung, und von meinem Bett aus konnte ich den Himmel betrachten. Das war das Schönste an dieser Wohnung.

In der Nacht vom Dienstag, den 5. Februar auf Mittwoch den 6. Februar 1991 konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen.

Draußen heulte der Wind, und er trieb die dunklen Wolken am Himmel vor sich her.

Es war eine Unheil prophezeiende Stimmung, eine Atmosphäre wie bei Macbeth.

Am nächsten Morgen berichtete der Nachrichtensprecher im Radio, dass es die kälteste Nacht seit 20 Jahren gewesen sei.

Ich wollte mir ein Bild davon machen und schaute aus dem Fenster.

Ich erschrak, denn das ganze Dach war zugedeckt mit kauernden schwarzen Krähen, die sicherlich - so erklärte ich es mir zu meiner Beruhigung - vor der Kälte auf das wärmende Dach geflüchtet waren.

Doch meine innere Stimme fragte: “Was wollt Ihr von mir, … ihr schwarzen Engel?”

Dann klingelte das Telefon und meine sehr gute Freundin, Angela - wir nennen sie Angy -, fragte mich, ob ihr Freund, der einer meiner besten Freunde war, bei mir sei. Er sei seit dem Vorabend verschwunden.

Ich verneinte, und ich wusste sofort, dass er in dieser Nacht gestorben war.

Ich wusste sofort, dass er sich selbst das Leben genommen hatte.

Vor meinem inneren Auge sausten die schwarzen Wolken.

Und die “schwarzen Engel” verbanden sich in meiner Fantasie mit Angela…black Angels…black Angela…

Die nächsten Tage verliefen wie in einem Albtraum. Vergeblich suchte man meinen Freund.

Und unser Musikfestival lief weiter.

Am Freitag, den 8. Februar gab das Ensemble “United Berlin” ein Konzert.

Auf dem Programm stand mein 45-minütiges Streichtrio “…bewegt…”, das ich teilweise im Garten meines vermissten Freundes geschrieben hatte. Es trägt als Motto ein Zitat von Konfuzius: “Seht doch! Die Dinge rühren den Menschen unaufhörlich an.”

Als weiteres Werk wurde das Streichquartett “Black Angels” von George Crumb gespielt.

Plötzlich geschah etwas, was ich in meinem Leben nur dieses eine mal erlebte:

Mitten in der Uraufführung meines Streichtrios “…bewegt…” riss dem ersten Geiger Andreas Bräutigam - wir sind Freunde seit unserer Kindheit - eine Saite…

Die Uraufführung von “…bewegt…” musste unterbrochen werden. Das Werk wurde in zwei Teile gerissen.

Am Samstag, den 9. Februar 1991 erhielt ich die Nachricht, dass man meinen lieben Freund gefunden hatte. Er hatte sich in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar- der kältesten Nacht seit 20 Jahren - in den Wald gelegt um zu erfrieren. Er hatte sich tatsächlich das Leben selbst genommen. Der Albtraum war wahr geworden.

Es zerriss mir das Herz, weil ich ihn ein Jahr zuvor gebeten hatte, für mich ein Opern-Libretto zu schreiben. Ein halbes Jahr vor Abgabe schrieb er mir: “Ich habe alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, zerrissen. Ich werde ganz neu von vorne beginnen. In 6 Monaten bekommst Du entweder das Libretto oder meine Kapitulation…”

Nun wusste ich, was er mit “Kapitulation” gemeint hatte.

Alle seine Freunde waren tief verletzt. Dennoch war ich nicht überrascht, da er bereits einige Jahre vorher einen Selbstmord-Versuch unternommen, es aber schließlich doch nicht geschafft hatte.

Mein Freund beschrieb mir einmal spät in der Nacht beim Wein seine Gedanken, die er dabei hatte. Er sagte: “Ich stand im Wald, ich schaute in den Himmel, ich betrachtete den Mond und die Sterne, und ich dachte: ich kann mich töten, ich kann es auch lassen. Es ist ganz gleich. Das Universum wird sich mir nicht zuwenden…”

Dieser Satz ertönte am Samstag, den 9. Februar 1991, immer und immer wiederkehrend wie ein Mantra, in meinem Kopf.

Am Abend desselben Tages brach dann noch ein Schneesturm über das Land und bedeckte es mit Massen von Schnee, dessen Weiß im krassen Kontrast zu den Black Angels und zu unseren dunklen Gedanken leuchtete.

Von all diesen Erlebnissen erfüllt, ging ich am Abend des 10. Februar 1991 in die Akademie für Tonkunst um das Porträtkonzert mit Isang Yun zu hören.

Ich wusste, wie schwer das Leben von Isang Yun gewesen war.

Und er hat trotzdem Musik gemacht um sein Leid in Schönheit zu verwandeln.

An diesem Abend wurde mir klar, dass die große Kunst von “Freude” nur in Form von “Sehnsucht nach Freude” sprechen kann.

Große Kunst nimmt das Leid und transformiert es in Schönheit, zur Freude der hin-hörenden Menschen.

Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allen Poe hat gesagt: “Melancholy is thus the most legitimate of all the poetical tones…”

Heute weiß ich, dass ich dies in jenem Konzert von Isang Yun erlebte.

Das Isang Yun Konzert war der Trost spendende Abschluss einer schmerzhaften Woche.

Ich hörte die Musik von Isang Yun.

Ich hörte das Leid, das zu schönem Klang geworden war.

Ich hörte den Schmerz-Ton in der Musik von Isang Yun.

Und dieser Schmerz-Ton verband sich an jenem Abend auf vollkommene Weise mit meinem eigenen Schmerzton zu einem stillen, inneren Zwie-Gesang.

Die enge Beziehung zwischen Leid und Schönheit hat mein künstlerisches Leben stets begleitet.

Das Konzert am 10. Februar 1991 war einer meiner intensivsten Erlebnisse dieser Trauer-Mechanik.

Heute, wenn ich an mein Leben und auch an jenes Konzert mit Isang Yun zurückdenke, bin ich glücklich…

Ich bin glücklich, weil mir klar geworden ist, dass eine Künstlerin und ein Künstler zuallererst die Fähigkeit erwerben muss, das eigene Leid zu tragen um es in Schönheit zu verwandeln…zur Freude der Mitmenschen.

In den vergangenen Jahren wurde mir dieser Zusammenhang zwischen Leid und Schönheit immer klarer.

Nachdem 2014 mein Werk “Lachrimæ” für Sopran und Orchester, das Teil meiner 3. Sinfonie ist, beim “Daegu International Contemporary Music Festival” uraufgeführt worden war und etwas später auch meine 3. Sinfonie, schrieb die amerikanische Musikethnologin Jocelyn Clark eine Rezension für das koreanische Musik-Magazin 라라 LARA.

Sie schrieb unter anderem: “I got into a discussion with…(the drummer) Kim Dongwon. A pro-Democracy activist who was tortured in jail in the 1980s, Kim has thought a lot about han 한恨. We were driving to Daejeon from Seoul one night after a concert we had both attended. I asked him how he thought the word han might be appropriately translated in English. Borrowing from the many cooking terms used to describe Korean music, we started at kimchi and eventually arrived at “fermented sorrow” as a good English phrase to describe the layers of festering pain that accumulate over lifetime”.

Gewöhnlich lese ich keine Rezensionen, ganz gleich ob sie positiv oder negativ gestimmt sind. Sie stören meine innere Ruhe.

Aber die Rezensionen von Jocelyn Clark lese ich immer, da ich immer aus ihnen lerne. Ihre Rezension in LARA war die intellektuelle Ursache (die emotionale möchte ich hier verschweigen) dafür, dass meinem Werk “Lachrimæ” weitere Trauermusiken folgten:

Ich komponierte “Han 한恨” für Orchester, die Kammermusik “Königskinder”,“Tombeau de Hans Werner Henze” für Violoncello und Ensemble, 빛과 바람 (Light and Wind), 만가 輓歌 (Dirge, Grablied) auf den Tod meiner Mutter, sowie (Sleep, Schlaf) für 6 Instrumente.

Während ich all diese “fermented sorrow”-Musik komponierte, dachte ich nicht bewusst an Isang Yun.

Aber die Anfrage von Herrn Jin-Heon Jung, ein Grußwort zur Eröffnung des Isang Yun Hauses zu schreiben, gab mir die Gelegenheit, wieder neu nachzudenken.

Instinktiv spürte ich, dass ich zu diesem Anlass nicht einfach “축하해요” - “Herzlichen Glückwunsch” sagen konnte. Ich musste versuchen, etwas Substantielles beizutragen. Und so wurde aus einem kurzen Gruß dieser lange Text.

Ich recherchierte alte Quellen, und die Erlebnisse und Bilder von damals stiegen in mir auf.

Heute weiß ich: Mein Denken “fermented sorrow” war immer da, mein Leben lang, obwohl ich die besten Eltern dieser Welt hatte.

Aber seinen bewussten Anfang - im Sinne eines “tief Empfindens” nahm dieses Denken im Konzert von Isang Yun am 10. Februar 1991, dem Trost nach einer schweren Woche.

Ach, … ich hätte es beinahe vergessen zu erzählen:

Nach dem Konzert ging ich mit Isang Yun, Toni Völker und dem Ensemble L’art pour l’art zum “Griechen mit den blauen Fensterrahmen”, wie wir ihn nannten.

BlauerGrieche

Ich erlebte Isang Yun in dem etwa zweistündigen Gespräch als einen ernsten, etwas finster blickenden freundlichen Menschen.

Vor ihm standen 2 Gläser der Größe 0,2 liter. Das eine Glas war gefüllt mit hochprozentigem Schnaps (Korn), das andere mit Wasser.

Ich war beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit Isang Yun mehrere solcher Sets an diesem Abend zu sich nahm.

Es sah eigentlich ganz harmlos aus, denn der Schnaps sah aus wie Wasser…

Eines hat sich bis heute glücklicherweise nicht verändert: Die Fensterrahmen des griechischen Restaurants sind immer noch blau (hell-blau). Oft fahre ich mit meinem Fahrrad daran vorbei. Und immer denke ich dabei an Isang Yun.

Es freut mich, dass ich bei der heutigen Eröffnung des Isang Yun Hauses wieder - wie im Konzert vor 27 Jahren - GAGOK hören darf. Ich freue mich auch, dass Il-Ryun Chung an der Akademie für Tonkunst heute der Nachfolger von Toni Völker ist - Toni Völker, der am 10. Februar 1991 in Darmstadt das Gespräch mit Isang Yun führte. Ich freue mich, dass heute viele meiner Weggefährtinnen und Weggefährten an diesem historischen Ort Musik machen.
Und ich freue mich, dass dieser Ort mir Gelegenheit gibt, neue Freundschaften zu schließen.

Möge dies der Anfang einer starken Entwicklung dieses Hauses sein!

Möge dieses Haus jungen und alten Musikerinnen und Musikern Raum geben, um tief zu denken.

Möge dieses Haus jungen und alten Musikerinnen und Musikern Raum geben, um sich auszutauschen.

Möge dieses Haus jungen und alten Musikerinnen und Musikern Raum geben, eine gute Zukunft zu gestalten.

Von Yun Isang können wir lernen, dass man Leid in Schönheit verwandeln kann, zur Freude der Menschen.

Möge dieser Gedanke einer von vielen Leit-Gedanken dieses Hauses sein.

Ich wünsche den wunderbaren Menschen 정진헌 Jin-Heon Jung und 정은비 Eunbi Jeong eine glückliche Hand!

Ich bin bereit, dem Isang Yun Haus und Jin-Heon Jung und Eunbi Jeong, zu helfen.

축하합니다!