CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

CORD MEIJERING
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KASPAR HAUSER
Theatertanz in sechs Teilen

for 1 flute (alt. picc. flute), 1 oboe (alt. cor anglais), 1 clarinet (alt. bass clar.), 1 basson (alt. contra bassoon), 1 horn, 1 trumpet, 1 tenor trombone, 1 tuba, timpani,1 harp, choir (s1 - s2 - a1 - a2 - t - b), compact disc, strings

composed in
1996/97, rev. 1999

commissioned by
Theater of Coburg and Theater of Rostock, Germany

duration
approx. 61 min.

movements
1) „Schwarze Bilder“ (“Black Paintings”)
2) „Blendung“ (“Dazzle”)
3) „Capriccio 1 - Deutsche Tänze“ (“Capriccio 1 - German Dances”)
4) „Entdeckung der Sinne (Variationssuite)“ (“The Discovery of the senses”)
(a) Tasten (Feeling)
(b) Hören (Hearing)
(c) Riechen (Smell)
(d) Sehen (Sight)
(d1)
(d2) „Epiphanie“
(e) Schmecken (Taste)
5) "Entdeckung der Sprache“ (“The Discovery of Speech”)
6) "Saturn verschlingt eines seiner Kinder (Capriccio 2)" (“Saturn devours one of his children”)

dedicated to
no dedication

first performance
June 20, 1997
St. Moritz Church Coburg, Germany
Ballet, choir and orchestra of the Landestheater Coburg
choreography: Tomasz Kajdanski
conductor: Hiroshi Kodama

rev. version
March 10, 2000
Nikolai Church Rostock
Ballet, choir and orchestra of the Volkstheater Rostock
conductor: Frank Strobel

publisher
EDITION MEIJERING

program notes
Viel Interesse hat der Fall Kaspar Hauser unter dem kriminologischen Aspekt gefunden: War er ein Sohn des Hauses Baden? - wenn nicht, wer war er dann?

Was mich betrifft, so hat mich dieser Aspekt bis hin zu den Untersuchungen des „Spiegel“ und deren Kritik durch „Die Zeit“ nicht sonderlich interessiert. Im Zentrum meiner Beschäftigung stand die Person Kaspar Hauser mit seinen sinnlichen Reaktionen auf all die Dinge, die auf ihn einstürzten.

Der „Theatertanz“ beginnt mit dem Satz „Schwarze Bilder“. Der Titel ist eine doppelte Chiffre: Zum einen bezieht er sich auf die Kerkerzeit Kaspars. Da es mir unvorstellbar ist, was ein Mensch, der über so lange Zeit im Dunkeln eingesperrt ist, empfindet, besteht die Musik in diesem Teil fast ausschließlich aus dem, was ich sicher wissen kann, das heißt aus transformierten Körperklängen wie Atem, Herzschlag, Tastgeräuschen etc. Zum anderen verweist der Titel auf Goyas Spätwerk, die sogenannten „Schwarze Bilder“, die so viel Wissen um die Abgründe des menschlichen Lebens wie Brutalität, Hysterie, Angst, Dummheit und Wahn in sich tragen.

Der zweite Teil „Blendung“ reißt Kaspar ans Licht, setzt ihn den höchsten Belastungen seiner Sinnesorgane aus. Seine Augen schmerzen, entzünden sich. Erstmals ist hier der Chor zu hören, die innere Stimme Kaspars. Bei Emanuel Swedenborg las ich, dass die Engel im Jenseits eine Sprache sprechen, die hauptsächlich aus Vokalen besteht. So ließ ich auch Kaspers Stimme - die des Sprechens im kultivierten Sinne noch nicht fähig war - die Sprache der Engel sprechen, das heißt mit Vokalklängen, die als Klanggestalten seine innere Bewegtheit zum Ausdruck bringen.

Der Dritte Teil „Capriccio 1 - Deutsche Tänze“ zeigt Kaspar als Objekt für die schaulustige, biedere Nürnberger Bevölkerung. Die Musik ist eine Collage aus ländlichen Tänzen von Beethoven und Schubert, das heißt ein musikalisch ironisierender Bezug auf die damals zeitgenössische Gebrauchsmusik. Der Chor schafft in dieser Umgebung einerseits Allusionen auf die deutsche Chorgesangstradition, andererseits intoniert er hier erstmals ein von nun an immer wieder die Musik durchziehendes Lamento. Hierzu treten, vom Chor gesprochen, Kaspars erste Worte: „ä sechtene möcht ich wähn, wie mei Vottä wähn is... Reutä wähn wie mei Vottä wähn ist.. woas nit!“.

Teil vier „Entdeckung der Sinne (Variationssuite)“ bildet den Höhepunkt nach innen. Nachdem sich der Schmerz durch allmähliches Abstumpfen der Aufnahmefähigkeit ein wenig gelegt hat, kann Kaspar sich erstmals seinen Sinnen, oder besser: dem, was sie wahrnehmen, zuwenden. Er sieht, riecht, schmeckt, fühlt und hört zum erstenmal, so intensiv und tief empfindend wie ein Kind. Diesen paradiesischen Zustand des erstmaligen Sehens, das heißt die im besten Sinne naive Übereinstimmung von Denken und Empfinden wiederzufinden, ist vielleicht eine der Haupantriebskräfte jeder künstlerischen Betätigung. Vielleicht hat die Faszination, die Kaspar Hauser bei so vielen Künstlern ausgelöst hat, gerade in seinem unbefangenen Wahrnehmenkönnen und dennoch kein Kind mehr sein - ihre tiefere Ursache.

Im fünften Teil „Entdeckung der Sprache“ sieht sich Kaspar umgeben von vielen Orchesterklängen und vielen Stimmen, die alle durcheinander in über dreißig Sprachen und Dialekten seinen Satz sprechen: „ä sechtene möchte ich wähn, wie mei Vottä wähn is... Reutä wähn wie mei Vottä wähn ist“. Kaspar versucht zu verstehen. Alle Stimmen sagen dasselbe, alle sprechen seine Worte, doch er versteht sie nicht. Er versucht es ihnen gleichzutun, aus seinem Mund tönen jedoch nur die Klänge des Schlagzeugs, Konsonanten anstatt der Vokale. Kaspar verlernt beim Sprechenlernen seine ihm eigene Sprache. Dieser fünfte Teil hat die Funktion, das individuelle Schicksal Kaspar Hausers auf die Ebene eines Sinnbilds für das heutige Zusammentreffen vieler Kulturen zu erheben. Selbst wenn man eine neue Sprache mit ihren Vokalen lernt, so ergeben sich dennoch zahllose Mißverständnisse, Angst und - mangels Bereitschaft zur Zuwendung - immer wieder unkontrollierte Aggressivität. Man glaubt die Worte zu verstehen, versteht in Wirklichkeit jedoch nur wenig von ihrem wahren Sinn, der mit ihrem Klang und der Situation der sprechenden Personen sowie mit dem kulturellen Kontext zeichenhaft verbunden ist. Kaspar Hauser, ein „Ausländer“ - fremd in seinem eigenen Land.

Der Schlussteil „Saturn verschlingt eines seiner Kinder (Capriccio 2)“ bezieht sich wiederum auf Goyas „Schwarze Bilder“, diesmal auf das wohl grausamste der Reihe mit gleichem Titel. Es zeigt den Gott Saturn (griech. Chronos), den Vater vieler Götter. Ihm wurde geweissagt, dass einer seiner Söhne ihn von seinem Thron stürzen werde. So verschlang er sie alle. Der Chorsatz nimmt an Komplexität zu. Dem Lamento wird eine authentische Traumerzählung Kaspar Hausers, gesprochen auf drei verschiedenen Sprechhöhen, hinzugefügt: „Als hätte ich wirklich einen Mann gesehen, er hat ein weißes Tuch um den Leib hängend, seine Hände und Füße waren bloß und wunderschön hatte er ausgesehen.


Dann reichte er mir die Hand mit etwas das einem Granz gleicht, dann sagte er ich sollte ihn nehmen, dann wollte ich ihn nehmen, dann gab er mir zur Antwort in vierzehn Tagen musst Du sterben; weil ich nicht lange auf der Welt bin und nahm den Granz nicht... und als ich näher kam, hatte er einen herrlichen Glanz bekommen. Dann nahm ich ihn und ging auf mein Bett zu, als ich näher den Bett zukam, bekam er immer einen stärkern Glanz, dann sagte ich, ich will sterben, dann war er fort...“. Bevor Kaspar stirbt, ertönt noch einmal leise seine Stimme im Chor: „Vor etlichen Wochen hab ich von Gartenkress meinen Nam geformt...“ Diese Worte beziehen sich darauf, dass Kaspar Kressesamen im Garten so ausgestreut hatte, dass nach einigen Wochen die Schriftzüge seines Namens auf dem Beet erschienen. Ein Unbekannter hatte sehr zum Kummer von Kaspar dieses kleine Naturwunder mit den Füßen zertreten. - Die Musik bäumt sich noch einmal auf und erstirbt in den Geräuschen eines schweren Atems.

Cord Meijering

Tagebuchnotiz:
Den Schnittpunkt zu finden, in dem die Erinnerung und die wahrgenommenen aktuellen Bewegungen zu einem bewegten imago, einer bildhaften aber auch bildlosen Bewegtheit, zusammentreffen, gilt alle künstlerische Bemühung. Was aber nun, wenn es - wie im Fall Kapsar Hauser - keine Erinnerung gibt, oder wenn sie so in ein Dunkel gehüllt ist, dass sie der Erinnerung an ein Leben vor der Geburt gleichkommt?... Dann wird diese Dunkelheit zum Licht der erstmals wahrgenommenen Dinge in so heftigem Kontrast erscheinen, dass alles, was man sieht und fühlt, mit der Intensität einer gleißenden Sonne auf einen triff und verletzt. Erst wenn sich die Sinne gewöhnt haben, werden die Konturen, die Schatten und Lichtplätze wahrnehmbar. Ohne von der Erinnerung durchkreuzt zu werden, ruhen die Sinne im Zustand höchster Verzauberung zum ersten Mal auf den Dingen. Wenn nun aber - in der Folgezeit - mehr und mehr das Wahrgenommene zur Erinnerung sich wandelt und als solche das Wahrgenommene im Jetzt mehr und mehr durchzieht, dann wird mehr und mehr die Wahrnehmung an Schärfe verlieren, mehr und mehr ein innerer Monolog, der uns hindert zu hören, zu sehen, zu empfinden, an ihre Stelle treten. Ohne die Fähigkeit des Menschen zur Imagination, d. h. die Fähigkeit, den Schnittpunkt von Erinnerung und Wahrnehmung in Form eines bewegten und bewegenden imagos zu finden, würde alsbald der geistige und sinnliche Tod eintreten. Die wieder und wieder unserem Bewusstsein erscheinenden Epiphanien erscheinen in größter Ähnlichkeit zu dem vorgenannten Zum-ersten-Mal Sehen. Darin liegt ihre Glück bringende Eigenschaft begründet. Die Fähigkeit zur Imagination schafft uns die Möglichkeit, täglich aufs Neue geboren zu werden und so zu sehen, zu riechen, zu hören, zu empfinden und zu schmecken, als wäre es das erste Mal. Sie wird somit zu einem Überlebensprinzip. Kaspar Hauser begann mit einem viele Jahre andauernden vorgeburtlichen Leben, von den Dingen der Tageswelt wurde er während der Tage nach seiner zweiten Geburt beinahe k.o. geschlagen, er gewöhnte sich jedoch rechtzeitig indem er den Preis der sinnlichen Abstumpfung zahlte wie jeder Mensch. Die einzige Chance, diesem Prozess der Abstumpfung entgegenzuwirken, den Teufelskreis zu durchbrechen, liegt in der Möglichkeit zur Imagination. Bei Hauser entwickelte sich immerhin bis zu einem klar ausgesprochenen Willen zu leben. Dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Hauser wurde getötet, bevor er seine Imaginationsfähigkeit und damit Erneuerungskraft voll entwickeln konnte. In dem verspäteten Zum Ersten-Mal-Sehen und der vereitelten Wiedergeburt durch die Imagination liegt vielleicht die Bestürzung begründet, die einen Künstler ereilt, wenn er die Geschichte von Kaspar Hauser hört. Ein Künstler, da er ein Künstler ist, kann sich Kaspar Hauser nur als einen Künstler denken, sonst hätte er keine Empfindung für ihn, denn das Mitgefühl ist unzertrennlich mit der Fähigkeit zur Imagination verbunden.