CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Darmstädter Musikpreis 2011 - Laudatio auf das Ensemble PHORMINX

LAUDATIO ZUR VERLEIHUNG DES DARMSTÄDTER MUSIKPREISES 2011 AN DAS ENSEMBLE PHORMINX

Meine sehr verehrten Damen und Herren, man glaubt es kaum: unter einem Aspekt betrachtet verkörpert das Ensemble Phorminx den heute überall gängigen Zeitgeist: Wie so viele alternde Menschen in unserer Gesellschaft, welche uns mit ihren plastischen Operationen, Zahn-Inlets, Anti-Aging-Cremes und Schönheitsprotesen zur ewigen Jugendlichkeit zu verdammen sucht, so ist auch das Ensemble PHORMINX offensichtlich bemüht, sich jünger zu machen als es ist. Auf seiner Website gibt es als Gründungsjahr 1993 an. Danach wäre es soeben achtzehn geworden und hätte nun endlich das Alter der Volljährigkeit nebst Führerschein und Wahlberechtigung erreicht.

Jedoch, als Zeuge der Geburt dieses Ensembles und als Redner dieser Laudatio sehe ich mich Ihnen, meine Damen und Herren, zur Wahrheit verpflichtet und bin daher bereit, Ihnen am heutigen Abend das wirkliche Alter und die besonderen Umstände der Geburt zu verraten.

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Das PHORMINX-Ensemble wurde 1986 geboren.

Liebe Phorminxer, ich möchte Euch daher heute von dieser Stelle aus ganz herzlich zum fünfundzwanzigsten Geburtstag gratulieren, - ... und natürlich auch zur Verleihung des Darmstädter Musikpreises. Auch gratuliere ich Christiane Seelinger und Hürsehit Köse dazu, dass sie für ihr Projekt “Deutsch-Türkisches-Musizieren” den Förderpreis zum Darmstädter Musikpreis erhalten haben. Das freut mich sehr.

Doch zunächst zurück zur Geburt des Ensembles Phorminx:

Es lohnt sich, von der frühen Zeit zu berichten, weil schon damals das Spannungsfeld entworfen wurde, in dem sich dieses Ensemble über ein Viertel-Jahrhundert hinweg bewegen sollte.

1986 beschlossen einige Instrumentalistinnen und Instrumentalisten sowie die beiden Komponisten Volker Blumenthaler und ich, dem misslichen Umstand Abhilfe zu schaffen, dass neu komponierte Werke bestenfalls ihre Uraufführung erlebten um danach sofort wieder und für immer im Chaos der Vergessenheit zu versinken.

Man wollte sogenannte Wiederaufführungen.

Man wollte, dass die neu komponierten Werke die Chance bekamen wie Repertoirestücke wieder und wieder gespielt zu werden.

Man wollte das, weil man wusste, dass sich die Werke über die Zeit hinweg in der Fantasie des Auditoriums verändern werden.

Man wollte dem interessierten Publikum die Möglichkeit zu kontinuierlicher hörender Beschäftigung mit dieser schwierig und neu erscheinenden Klang-Materie zu bieten.

-- Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges schrieb in seiner Utopie eines müden Mannes: (Zitat) “Außerdem kommt es nicht auf das Lesen an, sondern auf das Wiederlesen”. (Zitat Ende)

PHORMINX - Was bedeutet der Name, und wie kam es dazu?

Er ist Teil und Sinnbild des oben erwähnten Spannungsfeldes, in dem sich die zeitgenössische Musik - insbesondere die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - befunden hat und zum Teil noch befindet. Lassen Sie mich dies näher erläutern.

Es war - wie gesagt - 1986. Die Musikerinnen und Musiker wollten zusammen musizieren, und sie suchten für das neu zu gründende Ensemble einen Namen. Viele wurden erwogen, ebenso viele wieder verworfen. Man fragte im Freundeskreis herum, diskutierte und verwarf.

Einer dieser Freunde war Peter Steffens, genannt Salzmann, ein junger Philosoph aus Trier. Ihm verdanken wir nicht nur den Namen, sondern auch die Beschreibung des eben erwähnten Spannungsfeldes:

Ich fragte ihn einmal, warum er ausgerechnet in Trier Philosophie studiere. Er antwortete kurz: (Zitat) “Da der Geist nur in ihm feindlich gesinntem Gelände gedeiht” (Zitat Ende).

Des Weiteren fragte ich ihn, was denn der Name Phorminx bedeute. Diesmal antwortete Salzmann etwas ausführlicher und rezitierte mir - ironisch mit großem Pathos - und in altgriechischer Sprache einen Text aus der Ilias des Homer. - Ich bat um Übersetzung.

(Zitat)
Also den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne
Schmausten sie; und nicht mangelt ihr Herz des gemeinsamen Mahles
Nicht des Saitengetöns von der lieblichen Phorminx Apollons
Noch des Gesangs der Musen mit hold antwortender Stimme.
(Zitat Ende)
Homer - Ilias, 1. Gesang, Vers 601-604

Das Spannungsfeld:

Der im feindlich gesinnten Gelände gedeihende Geist versus Saitengetön von der lieblichen Phorminx Apollons und dem Gesang der Musen mit hold antwortender Stimme.

Kürzer und prägnanter kann man es nicht beschreiben.

Meine Damen und Herren, wir leben in einer hedonistischen Gesellschaft, die sich an ihrer hyaluronsäuregesättigten Fassade des flüchtigen Spasses labt. Das sagte uns bereits Enzensberger in seinem Gedicht “Landessprache” (Zitat):

“und was habe ich hier zu suchen,
in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland,
wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts,
wo der Überdruß ins bestickte Hungertuch beißt,
wo in den Delikateßgeschäften die Armut, kreidebleich,
mit erstickter Stimme aus dem Schlagrahm röchelt und ruft:
es geht aufwärts!
wo eine Gewinnspanne weit von den armen Reichen die reichen Armen
vor Begeisterung ihre Kinostühle zerschmettern.
da geht es aufwärts von Fall zu Fall”
(Ende des Zitats) Hans Magnus Enzensberger - Gedichte 1955-1970, © Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1957

Liebliches Saitengetön, aus dem Schlagrahm röchelnde Armut und hold antwortende Stimmen der Musen...

...irgendwo dort in diesem dem Geist feindlich gesinnten Gelände erhob das Phorminx Ensemble vor fünfundzwanzig Jahren seine Stimme, die Partei ergreift, indem sie keine Partei ergreift, sprich: die Spannung aushält zwischen höchster Instrumentalartistik, Schönklang, Geräusch und dem musikalischen Fragment, das in seiner Fragilität auf die verletzte, aber innig ersehnte Schönheit verweist.

Wer in diesem Bewusstsein Musik macht, beflügelt von großer Leidenschaft, die bar ist jeglichen äußerlichen Schmucks, der hat in dieser Welt kein großes, aber ein über alle Maßen treues Publikum. Man weiß, was man hat. Man weiß, was man an Phorminx hat.

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Aber was für ein Instrument ist nun eigentlich die Phorminx? Wir erfahren das, wenn wir die Homerische Hymne über Hermes oder auch das erst im letzten Jahrhundert entdeckte Papyrusfragment eines Satyrspiels mit dem Namen Ichneutai (Die Aufspürer) von Sophocles zu Rate ziehen. Da wird die Geschichte von der Erfindung des Saitenspiels eindrucksvoll und burlesk erzählt:

Wie viele griechische Göttergeschichten, so beginnt auch diese mit der Untreue des Göttervaters Zeus, der sich mit der Nymphe Maya eingelassen hatte und diese vor der Rache seiner Gattin Hera schützte, indem er die schwangere Geliebte in einem Berg namens Kyllene bis zur Geburt ihres Kindes versteckte.

Das Kind kommt zur Welt und erhält den Namen Hermes.

Diesem wird es bereits am Tage seiner Geburt in seinem Bettchen zu langweilig. Es geht vor die Tür und findet dort eine Schildkröte. Hermes, der ein großer Erfinder war, schnappte sich die Schildkröte, drehte ihr den Hals herum, weidete sie aus, steckte Stäbe durch den Panzer, bespannte sie mit Saiten, und schon war die Phorminx - oder auch Lyra genannt - erfunden.

So groß Hermes Gabe der Erfindung war, so klein war sein Wille das Instrument zu üben. Er spielte ein paar Töne und rührte sie danach kaum noch an.

Wieder wurde es ihm langweilig.

Er beschloss, sich einen Spass zu machen und seinem Bruder Apoll seine Rinderherde zu stehlen. Er lief los, drehte allen Rindern die Beine herum und entführte sie hinter den Berg Kyllene. Apollon bemerkte den Verlust, verstand aber nicht, wie die Rinder in die Luft geflogen sein konnten. Er schloss dies aus den Spuren, die wegen der verdrehten Beine in die falsche Richtung zeigten. Sie mussten doch hier sein! Oder zum Himmel aufgestiegen!

Also setzte er ein Kopfgeld auf den unbekannten Dieb aus. Sofort meldeten sich einige Trinkgesellen seines Bruders Dyonisos, der dicke Silen und seine Satyrn. Apoll versprach ihnen alle Reichtümer der Welt.

Umgehend machten sich die Kopfgeldjäger auf den Weg. Plötzlich hörten sie Musik von Unter der Erde. Sie erschraken.

Der dicke Silen trieb sie weiter an.

Wieder diese Töne. Wieder erschraken sie.

Nachdem dies mehrfach geschehen war, stampfte Silen heftig auf den Boden.

Die Wächterin des Berges mit gleichem Namen, die Nymphe Kyllene erscheint und weist die Gesellen harsch in die Schranken. Sie verbietet ihnen einen solchen Lärm zu machen und verweist auf die Gottheit Hermes, die in unterirdischer Höhle auf einer toten Schildkröte spiele.

Silen lacht ungläubig. Er sagt: “Zu Lebzeiten konnte die Schildkröte nicht sprechen. Da wird sie, wenn sie tot ist, nicht singen können”.

Mehr und mehr sind Silen und Satyrn von der Schönheit Kyllenes verzaubert. Sie stellen ihr nach, vergessen ihren Auftrag...

Inzwischen findet Apollon selbst den diebischen Hermes, verlangt seine Rinder zurück. Dieser leugnet die Tat. Selbst vor Zeus, zu dem er von Apollon geschleppt wird, schwört er einen Meineid. Zeus erkennt diese Dreistigkeit seines Neugeborenen und schlägt sich lachend vor Vergnügen auf die Schenkel. Dies ist eine der zwei Stellen in der griechischen Mythologie, wo von göttlichem Gelächter die Rede ist. Beide male wurde es von Hermes ausgelöst.

Verzweifelt schnappt Apollon seinen Bruder Hermes im Genick und droht eben selbiges herumzudrehen, falls Hermes die Rinder nicht sofort herausrücke.

Hermes hat eine Idee: Er greift nach der Phorminx und spielt Apollon ein paar Töne darauf vor. Dieser ist von dem Klang so bezaubert, dass er unbedingt dieses Instrument besitzen möchte.

Hermes schlägt ihm einen Handel vor: “Du bekommst die Phorminx und ich behalte die Rinder”. Gesagt, getan. Von diesem Tag an spielt Apollon, der Musenführer, beim göttlichen Mahl auf der lieblichen Phorminx.

Meine Damen und Herren, wie sie sehen, begann auch bei der Musik alles mit einem Kuhhandel.

Wer weiß, wie in der Neuen-Musik-Szene Konzerte vereinbart werden (“spielst du mein Stück, besorge ich dir ein Konzert”), erkennt unschwer die Weitsicht von Peter Steffens, als er dem Ensemble diesen Namen schenkte.

Soviel zur frühen, Weichen-stellenden Zeit der ausgehenden 80iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Im Laufe der nun folgenden Jahre veränderte nicht nur das Publikum kontinuierlich seine Hörgewohnheiten, sondern auch das Phorminx Ensemble seine Besetzung. Dies geschah nicht auf einmal, sondern in langsamer Mutation über die vielen Jahre hinweg. Aus der ersten Besetzung ist bis heute nur noch der Klarinettist Thomas Löffler dabei.

Ganz am Anfang organisierten Volker Blumenthaler und ich die Konzerte.

Alsbald erkannten wir aber, dass dieser Umstand sich als für das Ensemble sehr ungünstig erwies, da es von der komponierenden Zunft und den ästhetisch oft hermetisch abgeriegelten Rundfunkredakteuren als dem Stil von Blumenthaler und Meijering zugeordnet angesehen wurde. Dies bedeutete: Es gab für ein solches Ensemble kaum Konzerte.

Also übergaben wir die Last der Organisation an das Ensemble selbst, und siehe da: viele Composers begannen für das Ensemble zu schreiben. Ich habe es nicht nachgezählt, aber es dürften inzwischen an die hundert Werke sein, die vom Ensemble Phorminx uraufgeführt und - das ist das Wichtige - bei Gefallen immer wieder einmal aufgeführt worden sind. Die besten Stücke sind inzwischen regelrechte Repertoirewerke der zeitgenössischen Musik geworden. Wesentlich für die Arbeitsweise des Ensembles ist die enge Zusammenarbeit mit den verschiedensten Komponistinnen und Komponisten. Dies gewährleistet ein Höchstmaß an Werkverbundenheit bei der Bildung einer Interpretations-Kultur und Interpretations-Tradition für die Musik unserer Zeit. Mit Volker Blumenthalers Einführung in das heutige Programm werden Sie ein Beispiel einer viele Jahre andauernden Zusammenarbeit zwischen Komponist und Ensemble erleben.

Das Ensemble PHORMINX hat bis heute seinen Sitz in Darmstadt, obwohl die Musikerinnen und Musiker inzwischen über Deutschland verteilt leben und arbeiten. Das bedeutet viele Kosten und Mühe beim Reisen zu gemeinsamen Proben und Konzerten. Diese Arbeit wird hier seit 25 Jahren geleistet. Seit langem schon unterhält das Phorminx Ensemble in unserer Stadt eine Konzertreihe, die zunächst an verschiedenen Orten, später dann im Alten Theater und seit einigen Jahren im Großen Saal der Akademie für Tonkunst bespielt wird.

Ich möchte dem Ensemble für all die schöne Musik, die es uns zu Gehör brachte und für die Beharrlichkeit bei diesem schwierigen Unternehmen danken.

Als hätte es die Vorsehung für den heutigen Tag bereitet: Erstmals musiziert das Ensemble Phorminx gemeinsam mit türkischen Musikerinnen und Musikern der Musikschule Ozan. Wer genau hinsieht, erkennt das Instrument Baglama, oder auch Saz genannt. Vielleicht ist auch diese - wie die Lyra, die Harfe, die Gitarre etc. - eine Nachfahre der Phorminx der kleinasiatischen Gottheit Hermes. Meine Damen und Herren, ich verspreche Ihnen: das wird ein Riesenspaß. Das ist es immer, wenn Menschen gemeinsam aus ganzem Herzen Musik machen. Sie Alle werden heute Zeugen sein bei der Zelebration ganz neuer, unerhörter Musik.


Für mich und sicherlich auch für Sie wird mit der Verleihung des Darmstädter Musikpreises dokumentiert, dass der Geist der Neuen Musik in Darmstadt keineswegs in Feindesland gedeiht! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Cord Meijering, 1. November 2011