Synkretismus und Metamorphose
24/09/17 08:41 Filed in:
Music | Society친애하는 신사 숙녀 여러분, 이른 새벽의 찬 공기가 코끝을 시리게 하는 계절, 그 계절의 시작에 저를 이자리에 초대해 주셔서 감사합니다. 저는 여러분과 오늘을 함께하게 된 것을 기쁘게 생각합니다. 그러나 지금부터는 독일어로 말하겠습니다. 죄송합니다. (Sehr geehrte Damen und Herren, es ist die Jahreszeit, in der die kühle Luft der dämmernden Frühe die Nasenspitzen frieren lässt. Dass Sie mich zu dieser Zeit an diesen Ort eingeladen haben, dafür danke ich Ihnen sehr. Ich möchte gemeinsam mit Ihnen das heute Stattfindende mit Freude erleben. Aber ab jetzt werde ich Deutsch sprechen. Bitte verzeihen Sie mir das)
SYNKRETISMUS UND METAMORPHOSE
Gedanken zur Interkulturalität im Werk von Yun Isang aus der Perspektive eines Komponisten
Was bedeutet Synkretismus?
Was bedeutet Metamorphose?
Was kann man sich unter Interkulturalität vorstellen?
Was für Konsequenzen ergeben sich für die Wahrnehmung des Werkes von Yun Isang?
Und wie stellt sich das alles dar aus der Perspektive eines Komponisten?
Da die Beantwortung der ersten vier Fragen nur verständlich wird, wenn vorher die Perspektive geklärt ist, beginnen wir mit der letzten Frage.
Wie ist die Perspektive eines Komponisten? Was hört er anders, sieht er anders, was gewichtet er anders als z.B. ein Historiker?
Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ich hier selbstverständlich nicht stellvertretend für alle Komponisten spreche, sondern ausschließlich für mich selbst, in meiner Profession als Komponist.
Die Perspektive des Komponisten ist zunächst einmal eine poetische Perspektive.
Sie ist nicht wissenschaftlich, nicht linear historisch, nicht kausal im Sinne eines lückenlos nachvollziehbaren logischen Verlaufs. Und dennoch folgt sie einer inneren aus sich selbst heraus entstehenden Architektonik.
Sie ist spirituell.
Sie ist ihrem Wesen nach eine Perspektive eines schaffenden Menschen, der aufgrund seines Berufes gewohnt ist, ins Unbekannte zu reisen um nach seiner Rückkehr seinen Mitmenschen einen “Reisebericht” in Form einer neuen musikalischen Komposition zu präsentieren, zu zelebrieren.
Der große chinesische Philosoph Lao Tze 老子 wies einmal darauf hin, dass die Begriffe, die wir bilden, die Tendenz haben, das zu ersetzen, was sie bezeichnen. Einen Begriff zu erfinden hilft
dem Menschen in Strukturen zu kommunizieren. Aber ein Begriff verstellt auch alsbald den Blick auf das, was er ursprünglich bezeichnen wollte.
So verhält es sich auch mit den Begriffen Synkretismus, Metamorphose und Interkulturalität. Einerseits helfen diese Begriffe uns, überhaupt miteinander kommunizieren zu können.
Andererseits, wenn wir uns allzu sehr daran gewöhnen, diese Begriffe - zum Beispiel beim Hören und Wieder-Hören des Werkes von Yun Isang - anzuwenden, verstellen sie uns
möglicherweise all das, was wir hören könnten, all das, was jeder von uns anders hören könnte, all das, was jeder von uns bei jedem Wieder-Hören immer wieder aufs neue anders hören könnte und würde.
Unter Synkretismus verstehen wir gewöhnlich die Vermischung von Weltanschauungen, Religionen, Kulturen. Unter Metamorphose verstehen wir gewöhnlich die kontinuierlich verlaufende Veränderung. Und unter Interkulturalität verstehen wir das Zusammenspiel der Kulturen dieser Welt.
Lassen Sie mich im folgenden versuchen, diese Vorstellungen, die sich aus den Begriffen ergeben, aufzulösen - in der Hoffnung, dass wir danach Anderes hören und Anderes sehen können, dass wir wieder hören können wie ein Kind, das sich noch keinen Begriff gemacht hat und somit alles zum ersten mal hört, innerlich freudig bewegt.
Beginnen wir damit, den Begriff Interkulturalität aufzulösen. Was kann man unter Interkulturalität verstehen? Was ist eine Kultur? Gewiss, man kann diesen Begriff definieren, aber zu welchem Preis? Zum Preis der groben Merkmalsreduktion, zum Preis, eine Erstarrung des Denkens in Kauf nehmen zu müssen.
Wo beginnt das Persönliche? Wo endet es? Wo beginnt das Kulturelle? Wo endet es? Und wo beginnt und endet das Interkulturelle? Was ist der Unterschied zwischen Inter-Personalität und
Inter-Kulturalität? Welche Perspektiven ergeben sich? Erfordert die Betrachtung des Persönlichen eine nach innen, auf das Innerste gerichtete Perspektive? Erfordert die Betrachtung des Kulturellen eine nach außen gerichtete und das Betrachten der Inter-Kulturalität eine auf das Äußerste gerichtete Perspektive? Die Schwierigkeit hierauf eine befriedigende Antwort zu finden, zeigt sich spätestens dann, wenn ich den Horizont erweitere und nach dem Stellaren und Inter-Stellaren im für uns Menschen unvorstellbaren Universum frage. Das Unendliche übersteigt unsere Vorstellungskraft. Ebenso verhält es sich mit der Endlichkeit des Universums. Unwillkürlich erzeugt die Konstatierung einer Endlichkeit im Menschen die Frage: “Und was kommt danach?”
Es ist schon sehr bemerkenswert, dass der Mensch - wenn er über seine Vorstellungen vom Universum spricht - ein ähnlich physikalisches Vokabular verwendet wie, wenn er von seinen
Emotionen spricht, zumindest ist das in der deutschen Sprache der Fall. Er spricht im kosmischen Zusammenhang von Sternen-Explosionen, Schwarzen Löchern, von Anziehungskräften und von Abstoßung. Im Zusammenhang mit der Beschreibung menschlicher Emotion fallen Sätze wie zum Beispiel “Ich bin bewegt”, “Ich fühle mich angezogen”, “dieser Mensch übt eine große Attraktivität auf mich aus”, “ich bin in ein schwarzes Loch gefallen”, “ich könnte explodieren”. In der englischen Sprache verwendet man zur Bezeichnung musikalischer Abschnitte das Wort “movement”, das Sich-Bewegende… Alles stellt sich dar als Energie.
Doch lassen Sie uns den Blick zunächst auf einen vermeintlich kleineren Zusammenhang richten: Meine Mutter war eine gebürtige Deutsche, deren Muttersprache nicht das Hoch-Deutsche war, sondern das Nieder-Deutsche, das aus einer Ansammlung von Dialekten besteht, die in der nördlichen Hälfte von Deutschland gesprochen werden. Deutsche Menschen aus anderen Gegenden Deutschlands verstehen es nicht. Mein Vater ist ein Nieder-Länder, dessen Muttersprache - wegen seines niederländischen Vaters und wegen seiner englisch-gebürtigen Mutter, die in Deutschland aufwuchs, aber dennoch mit ihrem Sohn Nieder-Ländisch sprach, Nieder-Ländisch. Nachdem mein Vater als Kind nach Nord-Deutschland gekommen war und meine Mutter kennengelernt hatte, lernte er das Nieder-Deutsche, die Sprache seiner späteren Frau, welche die niederländische Staatsbürgerschaft annahm. Er lernte das Nieder-Deutsche wie eine zweite Mutter-Sprache, die aber nicht seine Mutter-Sprache war, da seine Mutter Nieder-Ländisch mit ihm sprach.
Meine Geschwister und ich wurden alle in Deutschland geboren. Doch was ist unsere Muttersprache? Geht man davon aus, welche Sprache wir am besten sprechen können, so ist sie sicherlich Hoch-Deutsch, da sie die Sprache unserer Schule war. Geht man aber von unserer Lebensrealität aus, so sind unsere Sprachen Mutter-, Vater- und Schulprachen: Das Nieder-Deutsche, das Nieder-Ländische und das Hoch-Deutsche. Diese drei Sprachen wurden in meiner Familie gesprochen, manchmal voneinander getrennt, manchmal fließend ineinander übergehend, sich mischend. Diese drei Sprachen waren Ausdruck unterschiedlicher Emotionalität. Das Nieder-Ländische, die Vater-Sprache lernte auch meine Mutter. Sie verwendete sie ausschließlich in sehr persönlichen Gesprächen mit meinem Vater, gleichsam als Beweis ihrer Liebe zu ihm. Mein Vater verwendete sie darüber hinaus, wenn er uns Kindern etwas Wichtiges, Bedeutsames mitteilen wollte. Wir Kinder antworteten ihm meistens auf Hoch-Deutsch. Das Hoch-Deutsche wurde am meisten zwischen uns Geschwistern gesprochen und zwischen meiner Mutter und uns Kindern. Mein Vater sprach diese Sprache, wenn er schlecht gelaunt war oder - da er von Beruf Biologe war - wenn er mit uns über wissenschaftliche Erlebnisse in der Natur oder über Politik und Geschichte sprach. Das Nieder-Deutsche war die Sprache zum Ausdruck eines niederdeutschen Humors. Es wurde in dieser Weise hauptsächlich von meinem Vater und meinem Bruder gesprochen. Meine Mutter setzte die Nieder-Deutsche Sprache für viele Stimmungslagen ein. Es war ja ihre Muttersprache. Interessant wurde es, wenn eine der Sprachen sich mit einer anderen mischte, fließend in sie überging. Das war immer Ausdruck einer sich ändernden Emotionalität, einer sich ändernden Energie.
Kann man aus dem soeben Geschilderten schließen, dass ich aus einem interkulturellen Familien-Zusammenhang stamme? Oder ist das einfach nur die EINE heile Welt meiner Kindheit?
Erweitern wir den Raum der Sprachkomponenten auf den internationalen Zusammenhang: Eine mit mir befreundete Familie besteht aus einer koreanischen Mutter, die in Korea geboren wurde und die später in Kanada studierte, einem portugiesischen Vater, sowie deren kleiner Tochter. Das Koreanische ist die Mutter-Sprache der Mutter, das Portugiesische die Mutter-Sprache des Vaters. Da der Vater zwar Koreanisch, die Sprache seiner Frau, gleichsam als Zeichen seiner Liebe zu ihr lernt, aber darin noch nicht weit fortgeschritten ist, sprechen Mutter und Vater miteinander die ihnen gemeinsame Schul-Sprache Englisch. Die Mutter spricht mit ihrer Tochter Koreanisch. Der Vater spricht mit seiner Tochter Portugiesisch. Wenn er versuchsweise seine Tochter auf Englisch oder Koreanisch anspricht, antwortet diese ihm ausnahmslos auf Portugiesisch. Seiner Mutter antwortet das Kind ausnahmslos auf Koreanisch. Das Englische wird von der Tochter gut verstanden, sie spricht es aber nicht von sich aus. Da die Familie in Deutschland lebt, spricht das Kind mit ihren Kindergarten-Freunden Deutsch. Das Kind ist somit vier-sprachig. Es verwendet aktiv diese Sprachen für verschiedene Personen. Es wählt stets die Mutter-Sprache seines jeweiligen Gesprächspartners. Tut sie dies so konsequent als Ausdruck ihrer Liebe?
Kann man aus dem soeben Geschilderten schließen, dass die kleine Tochter meiner Freunde in einem interkulturellen Familien-Zusammenhang aufwächst? Oder ist das einfach nur die EINE
heile Welt ihrer Kindheit?
Niemand auf dieser Welt kennt dieses Sprechen, bei dem man seine eigene Sprache auf das Gegenüber einstellt so gut wie die Menschen, deren Mutter-Sprache Koreanisch ist. Die vielen
Höflichkeits-Ebenen in der koreanischen Sprache werden eingesetzt je nachdem, welche Person mit welcher Person spricht. Ein Großvater spricht mit seiner Enkeltochter anders als die
Enkeltochter mit ihrem Großvater spricht.
Kann man aus dem soeben Geschilderten schließen, dass die koreanische Enkeltochter in einem für das Koreanische typischen inter-persönlichen Familien-Zusammenhang aufwächst? Oder ist das einfach nur die EINE heile Welt ihrer Kindheit?
Wo beginnt das Persönliche? Wo endet es? Wo beginnt das Kulturelle? Wo endet es? Gibt es in diesem Universum überhaupt etwas, was beginnt und was endet? Wenn aber das Persönliche, das wie ein “Schwarzes Loch” nach innen hin unendlich ist und somit weder nach innen noch nach außen als begrenzt erscheint, wie kann man es dann vom Kulturellen abgrenzen? Als Summe des unendlichen Persönlichen kann auch das Kulturelle keinen Anfang und kein Ende haben. Gibt es innerhalb des Kulturellen aber keinen Anfang und kein Ende, wie kann es dann etwas geben, das man mit Inter-Kulturalität bezeichnet. Ist nicht vielmehr alles ein Ganzes, ein einziges Universum, ein Kosmos von bewegter, bewegender Energie, deren Endlichkeit und Unendlichkeit wir uns nicht vorstellen können?
Dennoch wird es so etwas wie Inter-Kulturalität geben, da jemand diesen Begriff in diese Welt hinein formuliert hat. Wenn wir uns weder vorstellen können, das das Universum endet noch dass es nicht endet, dann können wir uns auch weder vorstellen, das es etwas gibt, noch dass es etwas nicht gibt. Also gibt es die Interkulturalität, zumindest als Begriff.
Die Vorstellung einer Kultur ist in der menschlichen Vorstellung gebunden an einen abgegrenzten Raum, an einen Ort. Wie wir aus dem soeben Geschilderten erkennen können, ist die Vorstellung eines abgegrenzten Raums zumindest problematisch, wenn nicht sogar ein beliebiger Gedanke, der nur dadurch existiert, da auch ein Gedanke existiert.
Aber wie verhält es sich mit unseren Vorstellungen von den Räumen in unserer Welt?
Was ist zum Beispiel ein Fluss? Wir nehmen wahr, dass er aus einem Flussbett besteht, durch das hindurch Wasser fließt. Dabei verändert sich dieses Flussbett durch das Strömen des Wassers, und das Wasser ist immer neu. Ohne das Flussbett ist der Fluss kein Fluss. Ohne das Wasser ist er ebenfalls kein Fluss. Wir geben den Flüssen Namen: Amazonas, Rhein, Han Gang…
Ist der Han Gang ein koreanischer Fluss? Gehört er zur koreanische Landschaft? Ist er Teil der koreanischen Kultur? Ja und Nein. Der Fluss wird vom Regen und von den Quellen gespeist,
die ihrerseits wiederum vom Regen gespeist werden, der den Wolken entspringt, den Wolken, die ohne jede Nationalität sind und die getrieben von der Energie des Windes den Erdball
überfliegen, ihrerseits gespeist durch die Verdunstung, die von der Erde heraufsteigt, ausgelöst von der Energie der Sonne.
Der Han Gang hat zwei Quellen. Die Quelle des Bukhangang liegt in Nordkorea nahe dem Kumgangsan. Die Quelle des Namhangang liegt im südkoreanischen Geumdaesan-Gebirge.
Während der Zeit, in der das Wasser von seinen Quellen her bis hin zu seiner Mündung vor der Insel Ganghwado durch das in Korea gelegene Flussbett fließt, ist der Han Gang ein koreanischer Fluss. Was aber wird danach aus dem Wasser? Es vermischt sich zunächst mit den Wassern des Gelben Meeres, dann mit den Wassern der Ozeane, verdunstet, bildet Wolken, regnet wieder an ganz anderer Stelle aus den fliegenden Wolken herab… Der Han Gang hat sein Wasser verloren und bleibt dennoch der koreanische Han Gang, weil neue Wasser folgen um für kurze, rasch vergängliche Zeit, in der es durch das in Korea gelegene Flussbett hindurchfließt, der Han Gang zu sein. In diesem Sinne wird der Han Gang einerseits von uns als ein Ort in Korea empfunden. In anderem Sinne ist er Teil der permanent anhaltenden kosmischen Energieumwandlung.
Wie bedeutungslos und dennoch bedeutsam ist angesichts dieser kosmischen Dimensionen der vom Menschen erfundene National-Gedanke!
Jeder kennt den taoistisch anmutenden Satz des griechischen Philosophen Hērákleitos ho Ephésios, der in verschiedenen Überlieferungen erhalten ist : “Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach. Auch die Seelen steigen gleichsam aus den Wassern empor.” Oder in anderer Überlieferung: “Es ist unmöglich in denselben Fluss zu steigen. Der Fluss zerstreut und bringt wieder zusammen … und geht heran und geht fort…”.
Auch der Mensch selbst, der in den Fluss steigt, fließt, und er ist - wie seine Umgebung - eine permanente Metamorphose von Körper und Geist.
Somit ist es unmöglich zweimal in denselben Fluss zu steigen.
Jeder Ton, der erklingt, verklingt und wird nie wieder auf gleiche Weise erklingen. Musik-Machen ist somit Leben-Üben und Sterben-Üben zugleich. Musik ist wie der Han Gang, ist Tao.
Wie kommt der Mensch, angesichts eines derartigen Fließens, auf so starre Begriffe wie die Namen der Nationalstaaten?
Angesichts dieses Fließens weiß ich nicht einmal, wer ich selbst bin. Wie kann ich da wissen wer der andere Mensch ist. Schon gar nicht weiß ich, was eine Nation sein soll. Ist sie mehr als
Revierverhalten zur Erzeugung eines Gefühls der Sicherheit, einer Sicherheit, nach der ich mich erschaudernd vor der ungeheuren Weite sehne?
Erlauben Sie mir, unsere Welt in andere Nationen einzuteilen und diesen andere Namen zu geben, die mir viel wirklicher erscheinen. Ich möchte die Menschen, die am Meer leben, gerne
unterscheiden von denen, die in der Wüste, in der Steppe, im Gebirge, in der großen Stadt, unter der Mitternachts- Sonne, in Palästen oder auch von denen, die wie Yun Isang, lange Zeit im Gefängnis lebten. Die Fischer am Meer, ganz gleich ob an der deutschen Nordsee oder an der Ostküste Koreas in Jumunjin oder im portugiesischen Lissabon oder an anderen Orten am Meer wohnen, haben Vieles gemeinsam, in jedem Fall mehr, als sie mit den Menschen der Wüste verbindet. Die Menschen des Meeres haben den unverwechselbar melancholischen Blick auf den fernen Horizont gerichtet, auch, wenn sie nahe gelegene Dinge betrachten. Ich habe das oft erlebt, da ich selbst auf einer Insel im Meer aufgewachsen bin. Das Meer mit seiner hochbewegten Unbeweglichkeit, mit dem immer gleichen und dennoch immer andersartigen Geräusch der Brandung, des omnipräsenten Winds. Vielleicht resultiert aus der Tatsache, dass ich vom Meer stamme, meine Liebe zum Jinyangjo 진양조. Vielleicht liebe ich die koreanischen Menschen, weil sie wie ich Insulaner sind. Jede Umgebung erzeugt eigene Energie-Felder, denen die Menschen ausgesetzt sind, die ihr Denken bewegen. Vor etwa einem Jahr, als ich gerade vom Flughafen Incheon kommend die Lobby meines Hotels bei 차병원 사거리 betrat, ertappte ich mich bei dem Gedanken: “Wie schön ist es, nach einer so langen Reise nach Deutschland endlich wieder zuhause zu sein.”
Natürlich gibt es auch so etwas wie eine nationale Identität, die vom menschlicher Energie geprägt wurde. So haben die Koreaner, die über Jahrhunderte hinweg immer wieder von anderen Nationen angegriffen und von dieser gewaltsamen heftigen Energie verletzt wurden, den Begriff des Han 恨 entwickelt. Es bezeichnet das ureigene Gefühl des Schmerzes, das nur ein Koreaner sich vorzustellen vermag. Wie die amerikanische Musik-Ethnologin und Gayageum-Spielerin Jocelyn Clark jedoch plausibel darstellte, gibt es vergleichbare Begriffe auch in anderen Ländern. In Deutschland spricht man vom Weltschmerz, in Portugal von Saudade und der spanische Dichter Federico Garcia Lorca wiederum nennt es Duende, das innere Gespenst.
Es gibt viele Räume, die vom Menschen für andere Menschen geschaffen wurden, zum Beispiel das Gefängnis. Nur wer wirklich einmal in einem Gefängnis gesessen hat, kann sich die Energie vorstellen, die sich unter derartigen Umständen im Innern des Gefangenen rührt. Die Kenntnis dieses Gefühls ist allen Gefangenen gemeinsam, macht diese gleichsam zu einer “Gefangenen-Nation”. Diese Energie, die die Kerkermauern zum Bersten bringen möchte, ist gespeist von der Sehnsucht nach dem, was unerreichbar ist. Dieses Sehnen wird zur gemeinsamen Identität aller Gefangenen auf dieser Welt. Yun Isang war einer von ihnen. Im tragischen Sinne gewinnt der berühmte Satz des amerikanischen Komponisten John Cage eine bittere Bedeutung: “Es ist nicht irritierend zu sein wo man ist. Es ist nur irritierend zu denken, man wäre gern irgendwo anders”. Der Schweizer Dichter Robert Walser sagte es so: “Nur nach was man sich sehnt, besitzt man wirklich.”
Es ist interessant zu sehen, wie sich bestimmte Gedanken, die wir einer bestimmten Nation zuordnen, auch in ähnlicher Form in anderen Kulturen wiederfinden. Nehmen wir als Beispiel den Taoismus und nähern wir uns damit allmählich unserem heutigen Thema, der Wahrnehmung des Schaffens von Yun Isang.
Macht der Satz des griechischen Philosophen Hērákleitos ho Ephésios “Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen…” ihn zu einem Vertreter des Taoismus? Ich meine Ja und auch Nein. Ja, da diese Aussage sich gut in taoistisches Denken fügt, ihm zumindest nicht widerspricht. Nein, da es immer schon auf der Welt voneinander unabhängig stattfindende Koinzidenzen gegeben hat. Zumindest nehmen wir sie als voneinander-unabhängig wahr. Vielleicht aber verteilt sich auch das Denken der Menschen, indem es wie das Leben spendende Wasser unterschiedliche Aggregat-Zustände annimmt, um von uns unbemerkt als neues geistiges Gut andernorts “herab zu regnen”. Dieser Gedanke erinnert mich daran, dass man im alten Korea nicht wie heute 비가 온다 (es regnet) sagte, sondern gemäß der Bedeutung, die der Regen für den Menschen hat, die höfliche Sprachform 비가 오신다 wählte.
Warum habe ich Ihnen, verehrtes Auditorium, all diese Gedankensplitter so ausführlich dargestellt? Was hat all dies mit dem Schaffen von Yun Isang zu tun? Der Grund liegt in einem Unbehagen, dass mich befiel, wenn ich in der deutschen musikwissenschaftlichen Literatur immer und immer wieder auf die Behauptung stieß, dass man die Musik von Yun Isang nur verstehen kann, wenn man weiß, dass sie auf der Philosophie des Taoismus basiert. Auf die Gefahr hin ketzerisch zu wirken, möchte ich das bezweifeln, zumal Yun Isang selbst sich hierüber widersprüchlich ausließ. Zum Einen wies er dann und wann auf den Taoismus hin, zum Anderen sagte er aber auch “Ich finde diese ganze Frage, ob ich westliche oder östliche Musik mache, uninteressant. Ich schreibe Musik, die ich schreiben muss, weil ich bin” (Yun, Rinser Yun, der verwundete Drache, FfM. 1977, S.220). Besonders die Begründungen, die von der Musikwissenschaft mittels Beispiele aus seiner Musik gegeben wurden, überzeugen mich nicht wirklich. Da wird als Beleg für ein taoistisches Denken beispielsweise der Satz Yuns angeführt: “Jede kleine Klangfigur muss das Grundkonzept des ganzen Stückes enthalten…Jedes meiner Stücke muss das Ganze meiner musikalischen Welt enthalten…”.
Wenn das Taoismus ist, dann ist auch Schönbergs und Brahms Musik taoistisch. Das glaubt ja wohl niemand.
Auch der Irische Schriftsteller James Joyce wäre diesem Argument zufolge ein Taoist, weil er schrieb: “Rhythmus ist wahrscheinlich die erste oder formale Beziehung eines Teils zum anderen in einem Ganzen oder eines Ganzen zu seinem Teil oder seinen Teilen, oder jedes einzelnen Teils zum Ganzen, dessen Teil es ist... Teile konstituieren ein Ganzes, insofern sie ein gemeinsames Ziel haben.” (James A. Joyce, 25. März 1903, Paris). Joyce war ganz sicher kein Taoist. Auch das Argument des im Yunschen Werk zu konstatierenden permanenten Wechsels der Klangfarben überzeugt hier nicht. Für das Denken in Klangfarben gibt es viele Beispiele, auch bei westlichen Zeitgenossen Yuns, z.B. bei Ligeti, Xenakis und Anderen. Würde dies so einfach stimmen, dann wären Ligetis Werke wie “Atmosphères”, “Lontano” Ausdruck eines taoistischen Denkens. Ebenso verhält es sich mit dem häufig geführten Hinweis auf die Zentraltönigkeit. Würde dies so einfach stimmen, dann wäre auch der langsame Satz von Ligetis 2. Streichquartetts Ausdruck eines taoistischen Denkens. Auch im zweiten Satz seines “Gaspard de la nuit” “Le gibet (Der Galgen)” taucht Ravel den Zentralton Bb in unzählige Farben. Trotzdem ist Ravel kein Taoist. Und in der Musik von Claude Debussy, die der deutsche Schriftsteller Thomas Mann einmal als “die radikale Absage an das abendländische Aktivitäts-Kommando” beschrieb, ist entweder bar jeder taoistischen Grundlage, oder sie enthält mehr Tao als die Musik von Yun Isang.
Natürlich wusste Yun Isang wie jeder gebildete Koreaner seiner Generation vom Taoismus. Sicher hat er sich auch damit auseinandergesetzt, wie viel, vermag ich nicht zu sagen. Aber den Taoismus als Schlüssel zum Verständnis von Yuns Musik zu erklären und den Nachweis über oben genannte musikalische Parameter zu führen, scheint mir doch eine grobe Übertreibung zu sein. Man kann selbstverständlich Yuns Musik vom taoistischen Standpunkt her betrachten. Das kann man jedoch mit jeder Musik tun, da Musik sich für uns als ein unablässiger Wandel im bewegt unbewegten Universum darstellt. Sicher, wir alle wissen das, enthält die Musik von Yun Isang viele Elemente der koreanischen traditionellen Musik, des koreanischen Denkens. Aber sie enthält mindestens ebenso viele Elemente aus der europäischen Tradition.
In dem Moment, wo das Westliche Denken ins taoistische Denken einbricht hört das Tao auf Tao zu sein und umgekehrt. In diesem Moment entsteht etwas Neues. Yun hat die Tradition seines Heimatlandes mit der Tradition seiner Wahl-Heimat verbunden und damit etwas Neues geschaffen, sein eigenes Energiefeld, das wir immer wieder aufs Neue möglichst unvoreingenommen wahrzunehmen versuchen sollten. Alles ist Tao. Aber nicht alles was klingt ist geplanter Ausdruck eines taoistischen Denkens.
Man darf nicht vergessen, dass zu der Zeit, als Yun seine Erfolge in Deutschland feierte, die Neue Musik es liebte Kategorien aufzustellen, z.B. das Serielle, die Emanzipation der Klangfarben, die Aleatorik etc. Die Landschaft der Neuen Musik war bevölkert von Komponisten, die sehr wortgewandt waren und die zahlreiche Sprachen sprachen. Sie verstanden sich darauf, ihre Ideen und die Kategorien ihres Denkens werbewirksam vor sich herzutragen. Diese Komponisten waren umringt von Journalisten und Musikwissenschaftlern, die ästhetische Lager bildeten und die dazugehörigen Kategorien des Denkens verbreiteten.
Ich selbst hatte die Ehre und das Vergnügen, Yun Isang persönlich zu treffen. Anfang der 90ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts veranstalteten wir an der Akademie für Tonkunst in Darmstadt ein Porträtkonzert mit seiner Musik sowie mit einem Podiumsgespräch mit dem Komponisten. Im Anschluss daran verbrachten wir noch einige gemeinsame Stunden im Gespräch in einem griechischen Restaurant bei wechselnd Wasser und Schnaps aus Wasser-Gläsern. Ich erlebte Yun Isang bei dieser Gelegenheit als einen mit Worten sparenden, ernsten Charakter, ganz anders als viele seiner redefreudigen komponierenden Zeitgenossen. Zu keinem Zeitpunkt erlebte ich bei ihm ein Denken in einfachen Kategorien wie zum Beispiel “Ost und West”.
Ich denke, dass es an der Zeit ist, sich der Warnung des Lao Tze zu erinnern und bei der Wahrnehmung der Musik von Yun Isang die meist vom Feuilleton aufgestellte Begrifflichkeit beiseite zu schieben.
Man sollte zudem die Reflexion über ein geschaffenes Werk nicht vermischen mit Überlegungen zur Intention des Komponisten, und schon gar nicht mit dem Hören der Musik selbst. Musik bedarf der immer wieder neuen Hinwendung, weniger der Erläuterung.
Die Frage, ob Yuns Musik auf Taoismus basiert oder nicht, ist eng verbunden mit der Frage wie Musik eigentlich entsteht.
Dieser Frage bin ich über viele Jahre hinweg nachgegangen, gehe ihr immer noch nach, regelmäßig. Besonderes Licht brachten die Essays von Octavio Paz, besonders der Aufsatz “Die Dichterische Inspiration” - wie ich finde, ein Meisterwerk der essayistischen Kunstbetrachtung, das so weit gefasst ist, dass man unter den darin formulierten Aspekten jedes beliebige Kunstwerk, so auch das Werk von Yun Isang betrachten kann, ohne dass es dabei seinen “Zauber des Erstmals” verliert.
Paz geht der Frage nach, was Inspiration sei. Er beschreibt das Verhältnis der Künstler der verschiedenen Jahrhunderte zur Inspiration. Für die “Alte Zeit” war die Inspiration ein Mysterium. Die Moderne verwandelte sie in ein vom Menschen nicht kontrollierbares Ärgernis. Ich möchte den Inhalte dieses Essays hier nicht vollständig referieren. Ich möchte die Lektüre jedoch all denjenigen, die sich für den künstlerischen Schaffensprozess interessieren, wärmstens ans Herz legen. Ich möchte es damit bewenden lassen, die von Paz beschriebene “Mitwirkung der Andersheit” zu erwähnen. Paz schildert, dass jeder Künstler, ganz gleich ob er an die Inspiration glaubt oder nicht, die Mitwirkung einer Andersheit spürt. Wer ist dieser Andere, der da mit mir zusammen das Werk schreibt? Für Paz ist dieser Andere: derjenige, der ich soeben war und derjenige, der ich sogleich sein werde. Es ist die Wahrnehmung des Verwandlungsprozesses im Sinne von Hērákleitos ho Ephésios, das Fließen des Flusses.
Das Andere, das Fremde, das nicht ich ist, in das ich mich aber verwandeln kann, birgt ungeheuer viel Verwandlungspotenzial. Diese Erkenntnis, die allen Künstlern wohl bekannt ist, gibt uns die Möglichkeit uns immer wieder aufs Neue der Musik zu nähern. Ein Künstler ist nur so lange ein Künstler, wie er sich verwandelt, wie er immer wieder aufs Neue versucht wie ein Kind zum ersten mal zu hören, zu schmecken, zu ertasten, zu sehen, zu riechen. Das wusste auch Yun Isang, als er beschloss sich der Energie einer fernen Kultur zu überlassen, um seine EINE heile musikalische Welt zu schaffen.
Voller Erstaunen tritt der Künstler wie ein Kind mit weit geöffneten Sinnen staunend der Welt entgegen und sagt 오서오세요, bitte treten Sie ein, Sie sind willkommen!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit! 감사합니다!