CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Darmstädter Musikpreis 2006 - Laudatio for Karola Obermüller

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Karola Obermüller,

das Interesse an zeitgenössischer Musik ist weltumspannend. Es regt sich in beinahe allen Menschen dieser Erde. Das Interesse an dem, was man in einigen Gegenden dieses Planeten die Neue Europäische Kunstmusik nennt, ist im Vergleich dazu so gering, dass es kaum der Rede wert zu sein scheint.

Kaum ein Mensch interessiert sich für seltene Spezies wie die der KomponistIn, kaum ein Mensch interessiert sich für das, was diese seltsame und seltene Spezies an Klang tagein tagaus von sich gibt.

Das Interesse an zeitgenössischer Musik im Allgemeinen ist so groß, dass es durchaus mit dem Interesse an Themen wie z.B. Weltfrieden, Hunger, Liebe, Tod und Krieg konkurrieren kann.

Das Interesse an der Neuen Musik mit dem Anspruch Kunst zu sein ist dagegen gleich Null. Kurz gesagt: Gemessen am Interesse, auf das sie stößt, scheint die Neue Europäische Kunstmusik bedeutungslos.

Das wüsste man auch in Darmstadt, wäre dies nicht ein Ort, an dem alle zwei Jahre während der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik etwa 500 Personen aus etwa 40 Ländern zusammenkommen um das zu diskutieren und zur Aufführung zu bringen, was diese seltsame und seltene Spezies an Klang tagein tagaus von sich gegeben hat. Gemessen an der Darmstädter Bevölkerung steigt zu eben dieser Zeit der Internationalen Ferienkurse vorübergehend der Prozentsatz der an Neuer Europäischer Kunstmusik Interessierten regional begrenzt auf gewaltige 0,4%.

Dieser Prozentsatz genügt den Darmstädterinnen und Darmstädtern und ihrer Wissenschaftsstadt, um diese seltene und seltsame Musik zu einem ihrer führenden Markenzeichen zu erheben. Was ist da los? Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was ist da los?

Nicht genug damit, dass in dieser Stadt im zweijährigen Turnus die Internationalen Ferienkurse veranstaltet werden, seit 60 Jahren werden in Darmstadt die Tage für Neue Musik und Musikerziehung ausgerichtet. Auch ist es seit Jahrzehnten Usus am Darmstädter Staatstheater, diese seltene und seltsame Musik in die Programme aufzunehmen, auch werden seit 15 Jahren Kinder und Jugendliche an der Akademie für Tonkunst im Komponieren dieser Seltsamkeiten unterrichtet. Seit 60 Jahren kann man an eben diesem Ort Komposition studieren, seit 60 Jahren werden dort die alljährlichen Tage für Neue Musik veranstaltet. Das Phorminx Ensemble, das Sie heute hören werden, präsentiert den Darmstädterinnen und Darmstädtern seit 13 Jahren auf höchstem Niveau zeitgenössische europäische und außereuropäische Kunstmusik, eine Musik, die wie bereits gesagt, kaum von allgemeinem Interesse ist.

Und nun auch das noch: Die Sparkasse Darmstadt, ein Unternehmen, dem man das Wissen um Kosten-Nutzen-Rechnungen nun wirklich nicht absprechen kann, vergeben gemeinsam mit dem Darmstädter Förderkreis Kultur e.V. nun zum zweiten Mal den Darmstädter Musikpreis. Im vergangenen Jahr erhielt diesen Preis der Jazzkomponist und –instrumentalist Christopher Dell, in diesem Jahr wird die Ehrung an die Komponistin Karola Obermüller vergeben.

Wo liegt der Nutzen, der diese Kosten rechtfertigt? Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist los in dieser Stadt? Was ist los in dieser Stadt, dieser Wissenschaftsstadt, die stolz darauf ist, dass in ihr die Künste leben, die stolz darauf ist, dass in ihr etwas lebt, was kaum einen zu interessieren scheint?

Kann man es eine wunderschöne Illusion nennen? Muss man es als Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit bezeichnen? Ist es vielleicht Vernunft? Oder ist es wieder einmal diese altbekannte Renitenz der Darmstädterinnen und Darmstädter gegenüber dem common sense, dieses „Is mir egal, was bei de Annern ist. Bei uns war das schon immer so un bei uns bleibt das so.“

Ich persönlich tendiere zu letzterer Deutung. Dieses Darmstädter Pochen auf die eigene Individualität, diese Renitenz gegenüber Vereinnamung von außen ermöglicht vielen Individuen dieser Stadt sich als Individuum und gleichzeitig als Bürgerin bzw. Bürger dieser Stadt zu fühlen. Eben diese Renitenz produziert den Schutzraum für all das, was man als Individualität bezeichnen kann, für all das, was sich nicht in Prozentzahlen messen lässt. Das habe ich in den 30 Jahren, die ich in dieser Stadt gelebt habe, häufig erfahren. Zum Glück!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte verstehen Sie meine heutige Rede deshalb nicht nur als eine Laudatio sondern auch als Plädoyer für die Individualität und die Qualität, bitte verstehen Sie sie als einen kleinen Beitrag dazu, dass dieser Schutz der Individualität in Darmstadt weiter bestehen kann, damit es „net so wie bei de Annern wird.“ Wie ich Karola Obermüller kenne, dürfte dieses mein Ansinnen auch ganz in ihrem Sinne sein.

Lassen Sie mich im nun Folgenden am Beispiel von Karola Obermüller näher erläutern, warum es sich lohnt, diese Individualität zu fördern, lassen sie mich aufzeigen, warum die Sparkasse Darmstadt und der Darmstädter Förderkreis Kultur auch mit der Einrichtung des Darmstädter Musikpreises ihre Kompetenz in Sachen Kosten-Nutzen-Rechnung unter Beweis gestellt haben.

Liebe Karola, bevor ich nun meinen Lobgesang auf Dich anstimme, möchte ich Dir erst einmal ganz herzlich zu diesem Preis gratulieren. Die Verleihung des diesjährigen Darmstädter Musikpreises an Dich erfüllt mich mit Freude, mit Stolz und mit Zuversicht. Ich freue mich, dass Deine unbeirrt vorangetriebene, qualitätvolle Arbeit der letzten Jahre mit diesem Preis eine öffentlich beachtete Würdigung erfährt. Ich bin stolz, da ich das Glück habe, Dein erster Kompositionslehrer gewesen zu sein. Diese Preisverleihung erfüllt mich mit der Zuversicht, dass auch in Zukunft individuelle Qualitäten in Darmstadt erkannt und gefördert werden, dass dies ein Ort bleibt, an dem nicht nur nach dem common sense entschieden wird.

Lassen Sie mich nun erzählen, wie all das begann, was heute durch diese Preisverleihung geehrt wird. Ich beginne mit einigen Sentenzen zur Person Karola Obermüllers gemischt mit historischen Gegebenheiten und werde mich dann im weiteren Verlauf mehr und mehr dem Werk Karola Obermüllers zuwenden.

Ich möchte Karola Obermüller hoch loben für ihre Treue, für ihre Offenheit, für ihren angenehmen und zugleich kämpferischen Charakter, für ihre Fähigkeit freundlich zu provozieren und für ihre häufig mit der Grenze zum Leichtsinn spielende Unbefangenheit. Ich möchte sie hoch loben für ihr Interesse an anderen Menschen und für ihre Fähigkeit sich selbst bei all dieser Offenheit gegenüber Andersartigkeiten auf ihre eigene Arbeit zu fokusieren. Ich möchte sie hoch loben für ihr Sich-Nicht-Beirren-Lassen in wesentlichen Dingen und last not least für die Qualität und die Individualität ihrer Kompositionen.

Ich lernte Karola Obermüller kennen, als sie 12 Jahre alt war. Sie war schon seit einigen Jahren Schülerin an der Abteilung Städtische Musikschule der Akademie für Tonkunst in den Fächern Violoncello und Klavier und bei mir im Unterricht der Allgemeinen Musiklehre. Die Musiklehrekurse wurden von mir versuchsweise in Kompositionskurse umgewandelt, da ich davon überzeugt war, dass die jungen Menschen sich in ihrem Alter sicher mehr für ihre eigene Musik interessieren würden als für die geheimen Gesetzmäßigkeiten von Dur und Moll.

Nach Vorübungen in Minutenstücken ergriff uns alsbald der Größenwahn und wir begannen mit der Komposition einer abendfüllenden Oper nach Gottfried Kellers Märchen SPIEGEL DAS KÄTZCHEN. Das von Schülerinnen und Schülern des Schuldorfs Bergstraße unter Leitung der Deutschlehrerin Barbara Zeizinger verfasste Libretto wurde auf 30 junge Komponistinnen und Komponisten aufgeteilt. Karola Obermüller war zur Zeit der Vorübungen noch nicht in diesem Kurs, stieg also gleich Hals über Kopf ins „Operngeschäft“ ein. Um sie einerseits nicht zu überfordern und ihr andererseits das Gefühl zu geben, schon eine Menge komponiert zu haben, übergab ich ihr zur Vertonung einen Refrain, der zwar nur eine Zeile lang war, aber immer wieder gesungen wurde. Der Text dieser Zeile lautete „Wenn so etwas nicht Liebe ist, dann die Maus die Katze frisst“.

Nach diesem geglückten Opernexperiment verkleinerten wir die Kompositionsklasse zwecks intensiver kontinuierlicher Arbeit an neuen Kammermusiken.

Karola Obermüller war nicht nur Schülerin sondern auch eine wichtige treibende Kraft in dieser Kompositionsklasse. Sie gestaltete den Geist in dieser Gemeinschaft wesentlich mit. Das war schon damals so.

Als Vierzehnjährige saß sie einmal in der Cafeteria der Akademie und las demonstrativ Joyce. Als ich zu ihr sagte, dass dies ja ganz schön starker Toback sei, den sie da lese, antwortete sie mit ihrem einnehmenden freundlich provozierenden Lächeln: „Na klar, damit die Studenten endlich mal wissen wo es lang geht.“

Dann sorgte sie dafür, dass in den Programmen und anderen Veröffentlichungen unserer Klasse das Wort Komponist stets durch das Wort Komponistin ergänzt wurde. Als ich sie einmal fragte, wie sie eigentlich so frauenbewegt geworden sei, schaute sie mich bedeutsam an und sagte: „Das ist doch ganz einfach. Meine Mutter ist in hohem Alter noch Feministin geworden. Da liegt es doch nahe, dass ich das auch werde“. Auf meine Frage, wie hoch dieses biblische Alter ihrer Mutter denn sei, sagte sie bedeutungsvoll: „54“. Irgendwann trieb sie es so weit, dass sich in mir eine Männersolidarität regte. Zuerst bemerkte ich es nicht, aber plötzlich war ich der Ansicht, dass ich einen Mann vor ihr in Schutz nehmen müsse: ihren verehrten Vater. Karola sammelte nämlich von all ihren Kolleginnen und Kollegen die fertig geschriebenen Noten mit den Worten ein: „Das kann mein Vater fotokopieren“. Da es sich bei den Noten um große Mengen handelte, hielt ich zum Manne und verlangte, dass jeder seine Werke ab sofort selbst kopiere.

Im Unterricht und besonders nach unseren Konzerten, beim Feiern, erzählte Karola ihren Mitschülerinnen und Mitschülern unbefangen von allem was sie bewegte, von ihrer Musik, von ihrem letzten und ihrem derzeitigen Verliebtsein, von ihren jugendlichen politischen Gedanken etc. Diese Unbefangenheit erstaunte mich, da Offenheit bezüglich der eigenen Person in diesem Alter recht ungewöhnlich ist.

Als es dann nach einigen Jahren ans Studieren ging, überlegten wir sehr genau, wo der rechte Studienort für Karola sein würde. Es ist nicht leicht, einen Lehrer zu finden, bei dem man seine Offenheit bewahren kann, bei dem man ein solides Handwerkszeug lernt und bei dem dieses Handwerkszeug sich nicht zum Kunstgewerbe entwickelt sondern neue poetische Dimensionen eröffnet. Die Wahl fiel auf den Komponisten Volker Blumenthaler, der an der Musikhochschule in Nürnberg unterrichtet. Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums in Nürnberg folgten Studien bei Adriana Hölzky am Mozarteum in Salzburg, bei Theo Brandmüller in Saarbrücken und schließlich bei Bernard Rands und Julian Anderson an der Harvard University in Cambridge Massachusetts.

Mit Karola Obermüllers Karriere ging es in schwindelerregender Geschwindigkeit bergauf. Ein Kompositionsauftrag jagte den nächsten. Mein anfänglicher Stolz darüber wich allmählich einer großen Sorge. Das darf hier wohl auch gesagt werden. Zu gut kannte ich die Eigenheiten des öffentlichen Konzertbetriebs, der junge Talente entweder gar nicht fördert oder aber so fördert, dass den jungen Künstlerinnen und Künstlern jede Möglichkeit zur Selbstbesinnung genommen wird. Ich machte mir Sorgen, dass ihre wunderbare Offenheit sich allmählich in ein „Jedem-Gefällig-Sei-Müssen“ und ihre an der Welt interessierte, nomadenhafte Natur sich allmählich in ein „Über-Den_Stern_Gehetzt-Sein“ verwandeln würden. Darmstadt – Nürnberg – Salzburg – Saarbrücken – Boston – Paris – Venedig – München – Indien – ein Preis aus den Händen des Dirigenten Zubin Mehta … und dies alles zwischen dem zwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Ich fragte mich: „Wo bleibt bei all dem Herum-Ge-jete Karolas Musik? Hoffentlich nicht auf der Strecke zwischen den Konzertorten. Die gleiche Sorge machte sich Volker Blumenthaler, mit dem ich häufig darüber sprach. Er war es, der Karola immer wieder und mit allmählich steigender Schonungslosigkeit an die lauernden Versuchungen des Betriebes erinnerte.

Wie ich eingangs erwähnte, ist Karola Obermüller ein außergewöhnlich treuer Mensch. Sie hält den Menschen, mit denen sie zusammengearbeitet hat, die Treue. Das wird im Laufe des Lebens bei ihrer Kontaktfreudigkeit natürlich immer schwieriger. Aber irgendwie schafft sie es. Es vergeht beinahe keine Woche, in der man keine E-Mail von ihr erhält. Wohl gemerkt, keine Rundmails, sondern persönlich an einen gerichtete kurze Nachrichten über den Stand der Ereignisse.

Da diese Mails zwar die Stationen ihrer Reisen über den Planeten dokumentieren, nicht aber die Gesten, den Gesichtsaudruck vermitteln können, mit denen sie reiste, schien mir meine Sorge mehr als begründet. Ich sah nur Darmstadt – Nürnberg – Salzburg – Saarbrücken – Boston – Paris – Venedig – München – Indien – ein Preis aus den Händen des Dirigenten Zubin Mehta …

Um so verwunderter und zugleich erleichtert war ich, als ich feststellte, wie ihre Werke in den letzten Jahren kontinuierlich an Dichte und Qualität gewannen. Ich konnte mir das kaum erklären.

Wirklich verstanden habe ich das erst vor etwa zwei Wochen, als ich sie mit dem Film-Team Marian Czura und Gerry Brosius in Cambridge für 10 Tage besuchte und viel Zeit mit ihr verbrachte. Ich glaube nicht, dass ich indiskret werde, wenn ich berichte, was mir aufgefallen ist:

Karola Obermüller hat eine Fähigkeit, die verhindert, dass sie in all dem Trubel untergeht. Ich kenne diese Fähigkeit seit langem. Mein verehrter Lehrer Hans Werner Henze hat sie in ganz ausgeprägter Weise und ich vermute, dass die meisten Künstlerinnen und Künstler, die unter so extremen Bedingungen leben müssen und dabei nicht untergehen, über diese Fähigkeit verfügen. Es ist die Fähigkeit zur Fokusierung. Diese Menschen können in beinahe jeder Umgebung sich in die innerste Welt ihrer Träume und Gedanken zurückziehen. Ihr Arbeiten verläuft als ein für andere Menschen nicht wahrnehmbarer Kontrapunkt zum alltäglichen Leben. Er hat mit diesem zu tun und ist zugleich selbständig und von ihm losgelöst mit der Tendenz dieses Leben um bislang ungehörte Klanglandschaften zu erweitern. Es ist eine Wanderung zwischen der realen und der geträumten Welt, wiederum ein Nomadentum von hier nach dort und von dort nach hier.

Im allgemeinen Sprachgebrauch könnte man auch sagen „Karola hat die Ruhe weg, komme was da wolle“.

Was sind nun die Themen, die sie mit sich selbst im inneren Monolog bespricht, denen sie ein flüchtiges Leben im Klang zu geben versucht?

Hier eine sehr unvollständige Liste: Alltag – Wut – Die Zahl 5 – politische Verantwortung der Künstlerin – Frauen – Männer – Ich und die Anderen – Der Kosmos – Die Natur – Die Farbe Rot – Erschaffung – Auflösung – Risiko – Der Körper – Reisen – Das Fremdsein – Das nicht Beschreibbare – Sex – Erotik – Enge – Weite – Der Raum – Die Form der Spirale – Geister.

Dazu vier Beispiele anhand von Zitaten aus Erläuterungen zu ihren Werken:

1. Alltag: Streichquintett 1997: Meine erste „Nürnberger Komposition“ war inspiriert von den Problemen in meiner neuen Wohnung: tropfende Wasserhähne, kaltes oder kochendheißes, unkontrolliert hervorschießendes Wasser, verstopfte Abflüsse... kurz nach meiner Ankunft in Nürnberg war zunächst einmal die Neugierde am Abwassersystem dieser Stadt geweckt! Ich komponierte also Wasser, das sich durch ein Rohr wälzt und an undichten Stellen hinaus spritzt, das sich verdichtet, zerfließt, verschwimmt, beschleunigt, um die Ecke schießt, sich bricht, zerschlägt, aufklatscht. Ich komponierte feinen Sprühregen, dicke Akzent-Tropfen, statische Seen, stinkende Kloaken. Ich komponierte kaputte oder vor sich hin eiernde Getriebe, ich komponierte „Kanalisationsfragmente“. Mein inneres Tönen kulminierte in wogenden, grellen Wellen.Meine Faszination für die Beschaffenheit des Unterirdischen und des sich stetig Verändernden hat sich auch nach Vollendung des Werkes nicht erschöpft. Mit anderen Worten, die „Kanalisationsfragmente“ haben sich selbständig gemacht und ein Eigenleben in meinen Kompositionen entwickelt.
2. Wut / Die Zahl 5: Fünf Wutfetzen für Klavier solo.
kompositionstagebuch, eintrag nr. 73:
witterungen, ahnungen, gerüche, zustände der wut. ihre spur verfolgen, sich herantasten an die vielfachen assoziationen. die FÜNF hörbar machen, in klang verwandeln, MATERIE: fünfklänge, quinten, puls und rhythmus: quintolen, fünfmalige wiederholungen, klangnetze zu 10x5 oder 5x10...die FÜNF zwischen extension und kontraktion, die FÜNF verlassen in gleichsam konvulsivischer expansion eines fünftonmotivs... die grundgestalt durchläuft einen steten prozess der verwandlung ... einer spur folgend.
Die „Fünf Wutfetzen für Klavier solo“ sind meiner Mutter gewidmet. Sie stellen damit eine
Hommage an die Kraft der Wut dar und verweisen ins Utopische („die Wirklichkeit aberkennen und die Welt, wie sie sein könnte, lieben!“ - Erich Fried).

3, Politik / Frauen: incalzando. Als ich den Auftrag bekam, Musik zur Passionszeit zu komponieren, wählte ich als Ausgangspunkt die Vorstellung, daß sich das Leid der Menschen im Leiden Christi wiederspiegelt. Dabei musste ich feststellen, daß ich eigentlich sprachlos war.
So ging ich auf die Suche nach etwas, das meine Sprachlosigkeit würde sprechend machen können. Ich wurde fündig bei Nelly Sachs, der (Zitat Hans Magnus Enzensberger) „letzten Dichterin des Judentums in deutscher Sprache“, deren Familie in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches ermordet wurde.
Ich habe in einem ihrer Rätsel die Möglichkeit zu sprechen - oder besser: zu tönen - gefunden.

Von den vielen Leidensgeschichten in der Geschichte der Menschheit hatte mich in besonderem Maße die der Millionen von Frauen verstummen lassen, die in Europa mit Beginn der Neuzeit dreihundert Jahre lang von der geistlichen und weltlichen Obrigkeit und ihren Helfern als „Hexen“ gefoltert und ermordet wurden.
Ich habe dieses Stück in Gedanken an sie komponiert.

4. Erschaffung und Auflösung: Kalpa / Pralaya. Während meiner Indienreise begegnete mir immer wieder der Dualismus von „Kalpa“ (Erschaffung) und „Pralaya“ (Auflösung) – in der hinduistischen Mythologie, in Musik, Tanz und Kunst und auch im alltäglichen Leben. Alles bewegt sich zwischen diesen beiden Polen und befindet sich im ständigen Übergang von einem Zustand in den anderen.

(Ende der Zitate).


Wie unschwer erkennbar, handeln die Kompositionen Karola Obermüllers wie die meisten Werke der abendländischen Kunst vom Leben und von den das Leben bestimmenden Dingen wie dem Werden und dem Vergehen, sprich: von Liebe und Tod, von den Betrachtungen der Dinge und Begebenheiten, die am Wegesrand dieser großen Reise auftauchen und sich wieder verflüchtigen. Es handelt sich bei diesen Betrachtungen nicht um ein fatalistisches Hinnehmen des Gegebenen. Immer steht die Frage nach der eigenen Verantwortung unverrückbar im Raum. Das Wohltuende ist, dass dies alles sich bei Karola Obermüller vollzieht ohne dass sich der Eindruck eines Missionsgedanken einstellt.

Ich glaube, dass Karola Obermüller das Leben liebt, dass sie die Menschen und die Musik der Menschen liebt, und deshalb lieben das Leben und die Menschen und die Musik auch sie. Ich weiß, dass Karola mit den Menschen spricht, dass sie sie auf etwas hinweist ohne zu drängen, dass sie mit ihnen singt, gerade so wie ihr erster Refrain es erahnen lies:

„Wenn so etwas nicht Liebe ist, dann die Maus die Katze frisst“.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


Cord Meijering - Darmstadt, den 17. November 2006